Der Beginn der Expedition verlief nicht nach Plan: Zuerst hatten wir Schwierigkeiten, eine Genehmigung für die Besteigung des Kunyang Chhish ost zu bekommen. Das warf uns bereits einige Tage zurück. Dann rief Simon (Anthamatten; Anm. d. Red.) mich aus Bern an, um mir zu sagen, dass die Probleme mit seinem Pass geklärt waren – doch leider kam fünf Minuten später ein Anruf meines Bruders Matthias, der mit einer schweren Verletzung am Daumen auf dem Weg ins Krankenhaus war.
Die Nachricht brachte mich so durcheinander, dass ich mich setzen und wieder zur Ruhe kommen musste. Wir hatten soviel Zeit in das Projekt gesteckt, so viel recherchiert und trainiert. Es kam mir vor, als sei die ganze Sache geplatzt. Doch Hindernisse sind Teil des Lebens. Also beschlossen Simon und ich, dass wir trotzdem weitermachen wollten. Auf ins Ungewisse!
20 Tage später, am 25. Juni, brachen wir zu unserem Erstversuch an der Südwand des Kunyang Chhish Ost auf. Die Tage davor konzentrierten wir uns ganz auf die Akklimatisierung. Wir versuchten, uns langsam an die Höhe zu gewöhnen. Wir erkletterten ein paar Grate und kleine Wände in der Nähe des Basislagers und schließlich den 6.400 Meter hohen Ice Cake Peak, auf dessen Spitze wir übernachteten. Als wir wieder unten waren, ruhten wir uns nur einen Tag lang aus und packten dann unsere Ausrüstung für den ersten Versuch am Kunyang Chhish Ost.
Zwischenzeitlich war auch Matthias angekommen. Seine Verletzung und die mangelnde Akklimatisierung machten es ihm jedoch unmöglich, uns zu begleiten. Er konnte nicht einmal mit auf den Ice Cake Peak steigen, was ihm schwer zu schaffen machte. Aber wir mussten uns streng an die Regeln halten, wenn wir gegen den Kunyang Chhish nicht verlieren wollten.
Simon und ich fühlten uns wirklich stark und leistungsfähig bei unserem ersten Besteigungsversuch. Am dritten Tag, als das Wetter umzuschlagen begann und der Wind immer stärker wurde, erreichten wir eine kleine Biwakstelle auf 7.000 Metern Höhe. Es war erst 14 Uhr, aber die Wetterbedingungen machten einen weiteren Aufstieg unmöglich. Die Biwakstelle war der Witterung stark ausgesetzt. Ich werde diese Nacht nie vergessen: Die ganze Zeit hoffte ich, dass wir nicht vom Wind fortgerissen würden, in die Dunkelheit des Karakorum.
Am Morgen danach kam es noch schlimmer: Durch den kleinen, geschlossenen Reißverschluss unseres Zelts drückte der Schnee durch. Normalerweise gelingt es mir sehr gut, meine Gefühle in schwierigen Situationen am Berg unter Kontrolle zu halten. Doch an diesem Morgen war mir plötzlich klar, dass wir sofort handeln mussten. Sonst würde es der Berg unter uns tun. Wir packten zusammen und kämpften uns hinter zum Fuß der Wand. 14 Stunden später kamen wir zurück zu Matthias, durchgefroren, zermürbt und leer.
Vier Tage später unternahmen wir den zweiten Versuch. Diesmal zwangen uns zahlreiche Lawinen und tonnenweise frischer Schnee, bei 5.600 Metern umzukehren. Wir waren zu früh aufgebrochen, um das Wetterfenster nutzen zu können. Wir ärgerten uns, aber im Hochgebirge muss eben alles absolut perfekt sein. Zwischen Niederlage und Erfolg liegt nur ein winziger Unterschied. Einen Fehler kann man sich nicht leisten.
Enttäuscht erreichten wir das Basislager. Wir hatten zwar noch drei Wochen Zeit, aber uns war klar, dass es nur noch einen Versuch geben konnte. Diese fehlgeschlagenen Anläufe laugten uns aus. Wir versuchten, zur Ruhe zu kommen und über Nacht neue Energie zu sammeln. Dann wurde uns klar, dass die Zeit gekommen war. Das war unsere Chance. Wir mussten sie ergreifen – jetzt oder nie.
In den nächsten zehn Tagen gab es nicht viel zu tun. Schlechtes Wetter mit extremen Höhenwinden am Gipfel und Schnee bis hinunter zum Basislager erforderten unsere Geduld. Die Expedition schlauchte uns, auch mental. Wir waren dem Gipfel bei unserem ersten Versuch so nahe gewesen.
Am Abend des 13. Juli bekamen wir eine vielversprechende Wettervorhersage von Karl Gabl, unserem Meteorologen in Österreich. Es war zwar nicht das ideale Wetter, aber immerhin waren die Bedingungen an der Wand dank der klaren, kalten Nächte annehmbar. Und auch Matthias war jetzt bereit und hatte sich akklimatisiert. Am 14. Juli um vier Uhr morgens starteten wir unseren letzten Versuch – diesmal zu dritt.
An den ersten beiden Tagen verlief alles glatt. Nach einer spektakulären Biwaknacht auf einem winzigen, ungeschützten Schneepilz kletterten wir am zweiten Tag ohne Probleme auf eine Höhe von 6.600 m. Lediglich der aufkommende Wind und der aufgewirbelte Schnee auf den letzten Seillängen über Fels und Eis machten uns ein wenig zu schaffen. Es folgte eine weitere harte Nacht, in der unser kleines Zelt beinahe unter der Schneedecke, die sich darauf gelegt hatte, beinahe zusammenbrach.
Der folgende Morgen präsentierte sich kalt und grau. Wir versuchten, höher zu klettern. Es gelang uns nicht. Nach 200 m stießen wir auf eine kleine Felsspalte. Dort führte ein Tunneleingang nach innen. Der perfekte Unterschlupf, ohne Wind und Schnee. Hier konnten wir die beiden nächsten Tage abwarten.
Am Morgen des 18. Juli legte sich der Wind und der Himmel klarte auf. Es sah aus, als sei dies unsere letzte Möglichkeit. Um 6 Uhr morgens brachen wir bei Sonnenaufgang auf. Der Abschnitt, der nun vor uns lag, war unregelmäßig und schwierig. Unsere Zehen und Finger waren steif vor Kälte. Unsere Kräfte fast am Ende. Wir kletterten waagerecht direkt auf dem höchsten Grat und gelangten so auf einfacheres Gelände.
Während wir kletterten, verschlechterten sich die Wetterbedingungen, aber wir wussten, dass wir schon bald ganz oben sein würden. Immer langsamer kletterten wir Traversen bis zum höchsten Punkt. Um 12.30 Uhr war es soweit. Wir konnten es kaum glauben: Es ging nicht weiter nach oben, wir hatten den Gipfel erreicht.
Mit Tränen in den Augen umarmten wir einander. Wir hatten den End- und Höhepunkt einer langen Expedition erreicht und genossen nun den herrlichen Blick über einen Ozean aus Wolken und Nebel, aus dem nur die höchsten Gipfel des Karakorum-Gebirges herausragten. Der Kunyang Chhish Ost ist nun nicht länger unbestiegen. Ein großartiges Projekt im Karakorum ist endlich erfolgreich abgeschlossen.
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