Ursachen und Lösungsansätze

Mehr Bergunfälle in den Alpen? Eine Spurensuche

Kommt es einem nur so vor oder ereigneten sich diesen Sommer mehr Bergunfälle als gewöhnlich? Auch wir in der Redaktion haben uns diese Frage gestellt – und uns auf Spurensuche begeben.

Nur ein Gefühl oder Fakt: Gab es 2024 mehr Unfälle in den Bergen?
© IMAGO / Jan Eifert

Sommer 2024: Mehr Bergunfälle in den Alpen?

Wie die Alpenvereine seit Jahren länderübergreifend feststellen, zieht es immer mehr Menschen in die Natur und ins Gebirge. Dass mit dieser wachsenden Zahl auch ein Anstieg der Unfallzahlen in den Bergen einhergeht, bleibt nicht aus. Dennoch blieb die Relation zwischen Berggehern und Unfällen prozentual betrachtet recht gleich. Doch in diesem Bergsommer häuften sich die Unfälle.

Auch uns in der Redaktion begegneten in den Sommermonaten bei der Sichtung der Nachrichtenlage in der morgendlichen Konferenz häufig zwischen fünf und zehn Einsätzen – pro Tag. Besonders nach Schönwetterwochenenden wurde die Liste immer länger. Mittlerweile sprechen hierzu auch die Zahlen eine eindeutige Sprache: Allein in den Bayerischen Alpen kamen bis August 35 Menschen durch Bergunfälle ums Leben.

<p>Die Reste des "Festsaals der Alpen" nach einem großen Felssturz am Piz Scerscen in der Bernina.</p>

Die Reste des "Festsaals der Alpen" nach einem großen Felssturz am Piz Scerscen in der Bernina.

© picture alliance/KEYSTONE

Das übersteigt die Zahlen der Vorjahre deutlich. Zum Vergleich: 2023 etwa waren es im gleichen Zeitraum 21 Bergtote, im gesamten Jahr 41. Das beunruhigt auch Poltiker, etwa Innen- und Sportminister Joachim Herrmann (CSU).

Der verwies im Rahmen eines Pressetermins im Spätsommer auf die Folgen des Klimawandels, die sich nicht nur an den Viertausendern und Gletschern der Westalpen, sondern auch in den niedrigeren Lagen immer deutlicher bemerkbar machen. "Vermehrte Bergstürze durch das Abtauen des Permafrostes können Wege beschädigen oder sogar unbegehbar machen", sagte er der dpa beim Besuch einer Rettungsübung nahe Oberaudorf.

Berechtigte Frage: Sind die Berge gefährlicher als früher?

Wie die Zahlen belegen, ist die Sorge berechtigt. Videos von Felsstürzen in den Dolomiten, Tote durch Stein- und Eisschlag am Montblanc, durch Schneechaos blockierte Straßen im Aostatal und erneute Negativrekorde bei der Gletscherschmelze sprechen für sich: Die objektiven Gefahren in den Bergen nehmen zu.

Das liegt nicht nur an den zahlreichen Besuchern, sondern auch an den sich teils rasant verändernden Bedingungen. So fiel das Thermometer an der Marmolada mehr als 50 Tage nicht mehr unter Null – wohlgemerkt am Gipfel auf über 3300 Metern! Auch in niedrigeren Lagen gehen Veränderungen vor sich. So wurden im Spätsommer beispielsweise im Tiroler Lechtal Wanderwege durch Starkregen und Muren einfach weggespült. 

Stefan Winter, Ressortleiter Sportentwicklung beim Deutschen Alpenverein (DAV) benennt, worauf sich Wanderer in den Bergen einstellen müssen: "Die Überraschung ist bei vielen groß, wenn zum Beispiel ein Weg nicht mehr da ist, weil er einfach schlichtweg abgerutscht ist, weil Felsen abgebrochen sind, ins Tal gestürzt sind und das die Situation vor Ort verändert." Weitergehen ist in solchen Fällen selten eine gute Idee, auch wenn (noch) keine Sperre ausgeschildert ist.

<p>Werden diese Hinweisschilder wahrgenommen und verstanden?</p>

Werden diese Hinweisschilder wahrgenommen und verstanden?

© IMAGO / Jürgen Schwenkenbecher

Nicht selten kommen Infos über Wegsperren erst bei den Wanderern an, wenn sie vor dem Warnschild oder einem nicht mehr begehbaren Steigabschnitt stehen. Eine verbesserte Kommunikation, z. B. über Social Media und Tourismusverbände scheint ein notwendiger Schritt zu sein. Im Hochgebirge sind derlei Phänomene seit Jahrzehnten Teil von Praxis und Tourenplanung, wo gerade Hochtourenrouten durch die Gletscherschmelze immer mal wieder verlegt oder "ausrangiert" werden müssen.

Dass Wege nun auch in niedrigeren Lagen deutlich mehr Pflege erfordern und ab einem gewissen Punkt ggf. aufgegeben werden müssen, ist ein neues Phänomen, auf das sich Wanderer jedoch zunehmend einstellen müssen. Sperrungen sollten in jedem Fall beachtet werden, auch wenn mögliche Gefahren nicht auf den ersten Blick erkennbar sind!

<p>"Full House" auf dem höchsten Gipfel Deutschlands. </p>

"Full House" auf dem höchsten Gipfel Deutschlands. 

© Lubika Brechtel

Ist die Zugspitze Bayerns Unfall-Hotspot?

In Bayern entwickelt sich vor allem die Zugspitze zunehmend zum Unfall-Brennpunkt. Bereits sechs Menschen verloren dort im Jahr 2024 ihr Leben, zahlreiche Rettungen mussten durchgeführt werden. Doch die gebetsmühlenartigen Appelle der Alpenvereine, Bergschulen und -Magazine verhallen oft ungehört. Diejenigen, die man durch Hinweise zu Tourenplanung, Knowhow und Ausrüstung eigentlich erreichen müsste, scheinen der "Bergblase" so fern, dass die Versuche im Nichts verhallen. Was kann getan werden?

Problem Selbstüber- und Fehleinschätzung: Warum nicht Umdrehen?

In den sozialen Medien über gerettete Wanderer schimpfen und von der heimischen Couch aus den Kopf schütteln, hilft eher nicht. Doch kritische Fragen sind berechtigt: Wie erklären sich die zahlreichen Fälle, bei denen Wanderer nicht rechtzeitig umkehren? Wieso bricht man eine Tour nicht ab, bevor man auf dem Bauch durch steile Flanken robbt oder bis zur Hüfte im Schnee versinkt?

Und hiervon ausgehend: Warum funktioniert in den Bergen bei scheinbar vielen Menschen das so wichtige Gefahrenbewusstsein nicht? Wie erreicht man Gelegenheits-Berggeher und Urlauber am besten? 

In einigen Gegenden Bayerns werden bereits ganzjährig Ranger zur Sensibilisierung und Aufklärung eingesetzt. Das ist jedoch entweder kostenintensiv und/oder erfordert zahlreiche Ehrenamtliche, die ihre Freizeit (und vor allem Ferien und Wochenenden) für diesen Zweck zur Verfügung stellen wollen. Doch der Erfolg gibt solchen Pilotprojekten Recht: Viele der Ranger berichten über einsichtige Wanderer und Tourengeher, die zum Dialog bereit sind und Aufklärung annehmen.

<p>(Ehrenamtliche) Ranger sind in vielen Gebieten mittlerweile ganzjährig im Einsatz und klären über Gefahren und angemessenes Verhalten auf, hier im Nationalpark Hohe Tauern.</p>

(Ehrenamtliche) Ranger sind in vielen Gebieten mittlerweile ganzjährig im Einsatz und klären über Gefahren und angemessenes Verhalten auf, hier im Nationalpark Hohe Tauern.

© picture alliance / imageBROKER

Kann ein Projekt in Oberstdorf zum Vorbild werden?

Auch die beliebte Ferienregion um Oberstdorf im Allgäu sah sich mit überforderten Wanderern und unübersichtlicher Wegestruktur konfrontiert. Anstatt abzuwarten, entschied sich die Gemeinde bereits vor zehn Jahren für einen "Bergsportbericht". Darin werden online Bergwetter, Hüttenöffnungszeiten und Wege klassifiziert und aktuelle Infos veröffentlicht. Grüne und rote Kennzeichnungen verraten, ob ein Weg gesperrt oder zugänglich ist.

<p>Der Bergsportbericht aus Oberstdorf verrät auf einen Blick die aktuellen Verhältnisse.</p>

Der Bergsportbericht aus Oberstdorf verrät auf einen Blick die aktuellen Verhältnisse.

© oberstdorf.de

"Inwieweit Du die Fähigkeiten besitzt, die angegebenen Wege sicher zu begehen, liegt ausschließlich in deiner Verantwortung. Grundsätzlich sollte man die eigenen Fähigkeiten nie über- und die alpinen Gefahren niemals unterschätzen", prangt als Warnhinweis auf der Webseite.

<p>Auch über geöffnete Wege und Hütten kann man sich tagesaktuell informieren.</p>

Auch über geöffnete Wege und Hütten kann man sich tagesaktuell informieren.

© oberstdorf.de

Berge setzen Eigenverantwortung voraus: Wie nehme ich sie wahr?

Die Berge sind ein Ort der Freiheit, in dem man sich selbstständig bewegen kann, darf und auch muss. Doch Voraussetzung hierfür ist ein Bewusststein für die Gefahren und Veränderungen, mit denen man dort konfrontiert wird. Das erfordert kritische Selbstreflexion, Eigenverantwortung und Vorbereitung. Im Gegensatz dazu steht: Wer die Berge liebt, will nicht über Gebühr reguliert werden. 

Dem stimmt auch Andrea Händel, die neue DAV-Geschäftsführerin, in unserem Interview zu: "Eigenverantwortung ist eine große Qualität. Wir leben in einer eher risikoarmen Gesellschaft, die sehr auf Absicherung aus ist. Deshalb geht es für mich auch darum, ein Stück weit dafür zu kämpfen, dass ein eigenes Risikobewusstsein immer noch seinen Platz in unserer Gesellschaft hat. Kein Harakiri – aber Wagnisse müssen auch heute noch möglich sein," bezog sie Stellung.

Das kann und sollte ich vor jeder Bergtour checken

Zentral ist: Egal, ob "Alter Hase", Urlauber oder Gelegenheitswanderer: Jeder muss sich vor einer geplanten Tour bestmöglich informieren. Das bedeutet, nicht nur bei einschlägigen Portalen einen Track herunterladen, sondern sich mit den Begrifflichkeiten dahinter auseinandersetzen: Verstehe ich was die Bewertung T4 beim Wanderweg oder die Schwierigkeit D im Klettersteig bedeuten? Habe ich ein Verständnis davon, ob ich die angegebenen Höhenmeter bewältigen kann? Habe ich die notwendige Ausrüstung und weiß, wie man sie verwendet? Wie wird das Wetter auf meiner Tour? Ist die Tour schneefrei? Ist mit anderweitig schwierigen Bedinungen zu rechnen (Frost, Nässe ...)?

Was gerade in Frühjahr und Herbst im Zweifel immer weiterhilft, sind der Anruf auf einer Hütte im Zielgebiet, Erkundigungen beim örtlichen Tourismusverband oder einer Bergschule und das eigenständige Überprüfen umliegender Webcams. Denn eins ist in den Bergen sicher: Verhältnisse können sich schnell ändern!

Was können alpine Verbände, Magazine und Politik tun?

Aufklären, aufklären, aufklären. Nicht nur innerhalb der (meist eh schon gut informierten) Bergblase, sondern auch auf anderen Kanälen. Die Kampagnen im Winter machen es vor: Lawinenupdate, Skitouren-Lehrpfade, TV-Beiträge zum Thema und Co. schaffen eine Reichweite, die auch außerhalb der "Bubble" Wellen schlägt. Gezielte Kampagnen könnten auch im Sommer helfen, Berg-Gäste besser zu lenken und Gefahren bewusster zu machen. 

Hier sind die alpinen Verbände gefordert: Mehr Forschung zu Unfallursachen, niederschwellige Ausbildungsangebote und Infomaterial in gedruckter und digitaler Form. Auch Bergmagazine wie ALPIN sind gefragt, ihren Beitrag zu leisten. Nicht ohne Grund haben wir uns in der Redaktion eine tägliche Mischung aus News, Knowhow und Tourentipps auf die Fahne geschrieben.

<p>Joachim Herrmann (CSU), Innenminister von Bayern, nahm im August am Berggasthof Hocheck an einer Pressekonferenz teil. Thema waren die Gefahren des Klimawandels im Bergsport sowie Herz-Kreislaufprobleme als häufigste Unfallursache in den Bergen. </p>

Joachim Herrmann (CSU), Innenminister von Bayern, nahm im August am Berggasthof Hocheck an einer Pressekonferenz teil. Thema waren die Gefahren des Klimawandels im Bergsport sowie Herz-Kreislaufprobleme als häufigste Unfallursache in den Bergen.

© picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Doch auch die Politik kann aktiv(er) werden und (mehr) Fördergelder für Kampagnen von Alpenvereinen und Bergwacht zur Verfügung stellen, Gemeinden und Verbände beim alpinen Wegebau unterstützen und eine weitere Verbesserung der Rettungsinfrastruktur (z. B. Hubschrauberrettungsdienste) finanzieren. Nicht zuletzt sind an dieser Stelle auch die Tourismusverbände und Bergbahnbetreiber gefragt, die nicht selten Initiatoren und Instandhalter von Klettersteiganlagen und alpinen Wegen sind.

Grundlegende Tipps für eine sicheren Bergtag

  • 1. Anspruchsvollere oder einem selbst noch unbekannte Touren möglichst nicht alleine unternehmen. 

  • 2. Eine Person über die geplante Tour (Gipfel, Route, Tag) informieren. Bescheid geben nach der Tour nicht vergessen! ;)

  • 3. Immer das Smartphone oder Handy mitnehmen und Notrufnummern einspeichern. Nützlich für den Ernstfall sind auch Apps wie SOS EU ALP.
    Eine Auswahl dieser Apps ist Pflicht.

  • 4. Vorbereitung und Tourenplanung sind das A und O: Wetter- und Ausrüstungscheck, Bedingungen in der Route, Schwierigkeit der Tour ...

  • 5. Bei Mehrtagestouren in Gipfel- und/oder Hüttenbücher eintragen.

  • 6. Ausreichend Essen und Trinken einpacken. Auch ein Erste-Hilfe-Set ist Pflicht!

Text von Lubika Brechtel

2 Kommentare

Kommentar schreiben
Timo

Die Probleme scheinen mir tw. hausgemacht, oder zumindest ein Henne-Ei-Problem. Da werden mittlerweile (einst stolze) Gipfel wie das Rauhhorn am Vilsalpsee mit Tritthilfen zugenagelt, dass man eigentlich auch gleich den Felsen für einen ebenen Zugang zum Gipfel wegsprengen kann. Vorher hat die kurze Steilpassage vorm dem Gipfelaufbau eine respekteinflößende natürliche Barriere für zu wenig Erfahrene dargestellt. Jetzt wurde die einzige Kletterstelle mit Trittbügeln entschärft und der Berg zum etwas besseren Wandergipfel degradiert. Vermutlich weil man mehr „Actionberge“ für die Sauftouristen von der Landsberger Hütte brauchte. Bei anderen Gipfeln muss man mittlerweile wiederum aufpassen, nicht über die zunehmend vielen Hilfsdrahtseile zu stolpern.

Julian

Das Problem ist vielschichtig. Hier als ersten Punkt den Klimawandel zu bringen, halte ich für falsch. Denn meinem Eindruck nach haben sich gerade an den Kletter-4000ern die Bedingungen die letzten Jahre deutlich verbessert. Statt mit Steigeisen im Mixed-Gelände klettert man jetzt mit Stiefeln im trockenen Fels. Viel leichter. Ja, die Gletscher sind jetzt tendenziell aper und Steilflanken anspruchsvoller. Aber die meisten Gletscherrouten sind nur an wenigen Stellen ernsthaft steil, falls überhaupt. Gute Steigeisentechnik ist kein Hexenwerk und lässt sich üben. Womit wir bei einem der entscheidenden Punkte sind. Schaut man sich mal um, wer alles so wortwörtlich über den Gletscher stolpert, bekommt man das kalte Grausen. Bergführer sind hier übrigens mehr Teil des Problems als der Lösung, denn lieber zieht man eine vollkommen überforderte 4er-Gruppe auf den Gipfel, als 2 auf der Hütte zu lassen und Stress mit dem Kunden zu riskieren...
Problematisch diesen Sommer war sicherlich die Schneelage bis weit in den Sommer hinein und das wechselhafte Wetter an sich. Die Jahre vorher stellte sich im Frühling meistens warmes und stabiles Wetter ein, das war dieses Jahr erst spät der Fall. Aber, und das ist wichtig, nicht das Wetter dieses Jahr ist so abnormal, sondern das abnormal stabile Wetter der Vorjahre. Das kombiniert sich aber mit der Corona-Welle an neuen Outdooraktiven ohne große Erfahrung und Ausbildung. Was Ende Mai letztes Jahr ging, war dieses Jahr halt nicht drin. Oder erforderte ganz andere Ausrüstung. Dazu passt, dass sich auch bekannte und relativ einfache Modeberge wie die Zugspitze zu Problembergen entwickeln und nicht die eigentlich schweren Touren.